Zahlreiche Aikido-Meister haben ihr Ausüben und Vermitteln des Aikido durch das Üben mit Waffen (Katana, Iaito, Bokken und Jo) bereichert oder sogar geprägt: das war der Fall von Saito Sensei, Chiba Sensei und vieler anderer Meister. Bei NISHIO Sensei jedoch war sein gesamtes Aikido von dem Üben mit Waffen durchdrungen und durch es bedingt.

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Schon sehr früh (ab 1965) war es ihm erlaubt, seine eigene Schwertschule zu gründen, das Aikido Toho Iai, was sich in etwa mit «Umsetzung des Aikido-Prinzips mit dem Schwert» übersetzen lässt. Tatsächlich ist in diesem Iaido-Stil jedes Kata mit einer Grundbewegung des Aikido verbunden oder überträgt eines der Aikido-Grundprinzipien wie Irimi, Musubi usw.

Auf Rat von O Sensei begann Nishio Sensei bereits ab 1955 mit dem Studium des Iaido MUSO JIKI DEN EISHIN-Ryu sowie auch des Jodo SHINTO MUSO-Ryu und besuchte in der Folgezeit auch andere Iaido- und Jodo-Schulen. Die zwei Disziplinen gingen oft Hand in Hand miteinander, sei es, weil die Iaido-Schulen ein Unterrichten des Jodo beinhalteten, oder sei es, weil eine Iaido- und eine Jodo-Schule sich dasselbe Dojo teilten. 

Nishio Senseis Üben mit dem Jo rührt von dieser Quelle her, dem Jodo, und so kommt es, dass es grundverschieden ist von jenem Üben mit dem Jo, wie man es traditionellerweise in der Welt des Aikido kennt, besonders in Europa. 

In den europäischen Aikido-Verbänden wird fast ausschliesslich die Übungsform «Jo-tai-Jo» geübt. Sie wurde vor allem durch die Lehre von Saito Sensei bekannt gemacht, die sich, unterstützt von seinen Lehrbüchern und -videos, weit verbreitete.  

Die Kunst des Jo-tai-Jo, manchmal auch «Aiki-Jo» genannt, wurde sehr eingehend von Meistern wie Chiba Sensei und Tamura Sensei unterrichtet, um nur jene zwei zu nennen. 

Im Umfeld des JODO ist die Anwendungsweise des Jo jedoch grundverschieden. Der Jo dient dort allein dazu, einen mit einem Schwert bewaffneten Gegner zu parieren oder zu bekämpfen. 

Übersetzt in eine weniger gefährliche Übungsform und daher zugänglicher, als mit einem Jo ein Katana kontern zu wollen, ist es das Jo-tai-Ken, das die bevorzugte Übungsform der JODO-Schulen ist.

Es ist auch die einzige Jo-Form, die Nishio Sensei unterrichtet hat.

Sie unterscheidet sich, was die Handhabung des Jo anbelangt, durch mindestens drei grosse Änderungen gegenüber dem Jo-tai-Jo : durch die Ausgangsstellungen, die Schläge und die Art und Weise der Handhabung des Jo. 

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Die Ausgangsstellung (Kamae) : 

Während im Jo-tai-Jo die Ausgangsstellung zumeist darin besteht, dass man mit linkem Fuss vorne stehend den Jo senkrecht vor sich auf den Boden gestellt in der linken Hand auf der Höhe der Hüften hält, kommt diese Ausgangsstellung im Jo-Do nicht vor. Als logische Folge davon missbilligte Nishio Sensei sie.

Der erste Vorzug der Ausgangsstellung in seiner Schule bestand darin, dass der JoTräger die Länge seines Jo verbarg. Diese variierte früher und war nicht wie heute auf 1,28m standardisiert. Der Jo wurde in der rechten oder der linken Hand in der Mitte seiner Länge gehalten und war gegenüber der Horizontalen leicht geneigt, so dass die Verlängerung seiner Achse ins linke Auge des mit einem Bokken bewaffneten Gegners zielte (siehe Foto 1). Ins linke, nicht ins rechte Auge ! Es ist einfach, diese Bemerkung mit den Kenntnissen zu verbinden, die wir unserer Tage von der sehr verschiedenen Rolle von jeder Hirnhälfte haben und damit einhergehend von der Kontrolle, die jede Hirnhälfte auf jede Seite des Körpers ausübt.

Weitere Ausgangsstellungen liessen beide Hände beim Halten des Jo zum Einsatz kommen, er wurde hier entweder auf der linken oder der rechten Seite gegen die Hüfte gehalten, aber das Ziel blieb dasselbe : die Länge des Jo zu verstecken und seine unmittelbare Anwendung zu ermöglichen. 

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Die Schläge

Die von Nishio Sensei unterrichteten Schläge waren ebenfalls grundverschieden von denen, die mit einem Jo in der Welt des klassischen Aikido (in Jo-tai-Jo) praktiziert werden. 

Da, wo wir es in Jo-tai-Jo gewohnt waren, die Wucht des Schlags durch die Nutzung der Trägheit des Stocks zu finden und in der Ausführung eine möglichst grosse Ausdehnung des Bogens zu erzielen, also eine möglichst grosse Erweiterung der Bewegung, erfolgten die Schläge mit dem Jo bei Nisho Sensei (in Shomen, Yokomen und Kesa) ohne sichtbare Vorbereitung, indem die eine, schwunggebende Hand über den Jo gleitend zur anderen, haltenden Hand gezogen wurde. 

Diese Art des Schlagens setzte natürlich zuvor ein «Laden» der Waffe voraus, indem die Hände auf dem Jo auseinandergezogen wurden (siehe Fotos 2, 6, 20, 21). Es handelte sich also im Wesentlichen um Schläge, die durch gleitendes oder rutschendes Zusammenziehen der Hände bewirkt wurden. Die Bewegung war selbstverständlich von einer beinahe unwahrnehmbaren Hüftbewegung begleitet. 

Diese sehr schnellen und kräftigen Schläge, bei denen der Jo mit dem Schwert in einem sehr schwachen Winkel zusammentrifft (fast in einer Tangente zur Bewegungsbahn des Schwertschnitts), ermöglichten ein Wegjagen des Bokkens – und nicht etwa einen Schnitt des Jo – wenn sie in voller Aktion ausgeführt wurden. 

Sehr oft zielten diese Schläge auch direkt auf den mit einem Bokken gewappneten Angreifer. Es waren also wie im traditionellen Aiki-Jo immer Gelenk- oder knöcherne Bereiche, die anvisiert wurden: Ellbogen, Knie, Handgelenk etc. (Foto 2, 5, 16) 

Nishio Sensei hatte in diesem Gebiet eine ausserordentliche Ausführungsgeschwindigkeit (siehe die Videos auf: www.aikido-paul-muller.com), die selbst von seinen talentiertesten Assistenten unerreicht blieb. 

Ein letzter charakteristischer Punkt dieser Art des Übens ist die Stellung der Hände im Moment des Schlagens. Da diese oft zueinander gezogen wurden, liessen sie eine Länge von 25 bis 35 cm des Jo unbenutzt. Dies führte dazu, dass die «brauchbare» Länge des Jo mehr oder weniger der Länge des gegnerischen Bokkens entsprach. Diese Vorgehensweise war einer der Schlüssel, um eine maximale Geschwindigkeit der Ausführung zu erreichen, besonders bei den Schlägen, die eine Kreisbewegung zeichnen (z.B. bei Kata Dori Menuchi Nikio in Jo-tai-ken: siehe Video).

Nishio Jo - Photo 1
Nishio Jo - Photo 2
Nishio Jo - Photo 4
Nishio Jo - Photo 5
Nishio Jo - Photo 6
Nishio Jo - Photo 20
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Der «lebendige» Jo 

In der Handhabung des Jo wurde die Symmetrie, die dem Stock im Vergleich zum Schwert zusätzlich hinzukommt, ständig ausgenutzt – wie es auch im Aiki-Jo der Fall sein sollte.

 

Die Hände wurden auf dem Jo auseinander und zusammengezogen, so dass er pausenlos an dem einen oder anderen Ende gehandhabt wurde, ohne dass man vor der Ausführung des Schlages erraten konnte, welche Seite zuschlagen würde. Der Jo nahm so das Verhalten eines lebendigen Gegenstands an.

 

Doch über diese fast magische Handhabung des Jo hinaus waren es die Vollendung der Einheit des Sensei mit seiner Waffe und die daraus hervorgehende vollkommene Harmonie, welche die Zuschauenden und Teilnehmenden der Lehrgänge in ihren Bann zogen und in Begeisterung versetzten.

 

Alle seine japanischen, amerikanischen und europäischen Schüler verfolgen den Weg, den er in diesem Gebiet gezeichnet hat, weiter. Doch schaut man sich die Videos seiner Darbietungen an, seien sie mit oder ohne Waffen, so bleibt uns nur festzustellen, dass uns noch eine weite Strecke zurückzulegen bleibt.

 

Das ist jedoch das Los aller Budo-Praktizierenden, die das Glück hatten mit einem aussergewöhnlichen Meister zu trainieren. Nishio Sensei war ein solcher mit dem Jo, dem Schwert und im Aikido.

 

 

Paul Muller, 7. Dan Aikikai Tokyo.

 

 

Siehe die Webseite www.aikido-paul-muller.com, auf der zahlreiche Videos zum Übungsstil von Nishio Sensei zu finden sind.