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Artikel "Die Wurftechniken in Aikido“, Anfang Mai 2021, Revue Dragon.

 

Eine Besonderheit in der Welt des Kampfsports

Innerhalb der Kampfkünste zeichnet sich das Aikido normalerweise durch zwei Besonderheiten aus: einerseits durch die Abwesenheit von Wettkämpfen und andererseits durch den häufigen Einsatz der Holzwaffen Ken und Jo, die in Ergänzung zum normalen Üben mit Körperkontakt zum Zuge kommen. Aber auch die Wurftechniken mit den ihnen korrespondierenden speziellen Falltechniken und Rollen (Ukemis) sind eine wesentliche Besonderheit des Aikido. In keiner anderen Disziplin folgen auf die Wurftechniken in einer so leichten, hingenommenen und daher ästhetisch wirkenden Art und Weise die Falltechniken seitens des Angreifers, dass man glauben könnte, sie erfolgten in ständiger Komplizenschaft.

 

Dem ist aber (normalerweise) nicht so.  Die vorwärts oder rückwärts gerichteten Falltechniken (Ukemi), die beim Angreifer auf jede Wurftechnik folgen, sind für ihn eine vitale Notwendigkeit, um Gelenk-, Bänder- oder Muskelverletzungen zu vermeiden. Nach einer Wurfbewegung ist das Vorwärts- oder Rückwärts-Ukemi ein sicheres und unumgängliches Mittel, um keinen Schaden zu nehmen. Es ist diese perfekte Synchronisation der Falltechnik mit der Wurftechnik, die dem Aikido seinen harmonischen und spektakulären Charakter gibt, so dass der Zuschauer oft den Eindruck einer aktiven Zusammenarbeit zwischen Uke (Angreifer) und Tori (Angegriffenem) erhält, die einer gut geregelten Choreografie ähnelt.

 

Aber um soweit zu kommen, sind viele Stunden des Ukemi-Übens notwendig. Die Ukemis - das heisst die Vorwärts- oder Rückwärts-Rollen, die ‚aufschlagenden‘ Falltechniken sowie einige weitere und anspruchsvollere Arten der Landung auf dem Boden für die Fortgeschrittenen - das sind die obligatorischen Grundfertigkeiten der Aikido-Praktizierenden. Nur deren Beherrschung ermöglicht die Ausübung von Wurftechniken im Aikido.

 

Nage Wasa - die Wurftechniken

 

Die offizielle Nomenklatur der Aikido-Techniken klassifiziert diese in drei Typen: Wurftechniken (Nage), Festhalter (Osae) und Wurf-Festhalter (Nage-Osae). In der letzten Kategorie findet sich eigentlich nur Kote-Gaeshi. Die Festhalter (Osae) hingegen umfassen alle Kyo: Ikkyo, Nikyo, usw., aber auch Schlüssel-Griffe wie Hiji-Kime-Osae, Ude-Garami, und andere Kontrolltechniken. Die Wurftechniken (Nage) schliesslich sind am zahlreichsten. Diese Behauptung ist zwar zu relativieren, da jede Osae-Technik in eine Nage-Technik umgewandelt (oder mit ihr verbunden) werden kann und umgekehrt viele Wurftechniken als Bodenkontrolle, also in Osae, beendet werden können. Hinzu kommt, dass alle diese Wurftechniken sehr unterschiedlich in ihrer Eigenart und Gefährlichkeit sein können. Neben den zwei grundlegenden Wurftechniken Shiho Nage und Irimi Nage findet man die zwei ebenso wichtigen Wurftechniken Kaiten Nage und Tenshi Nage.

 

Es sei daran erinnert, dass die drei Techniken Ikkyo, Shiho Nage und Irimi Nage die drei grundlegenden Kihons bilden. Sie werden auch ‚hervorbringende (oder generierende) Kihons‘ genannt, weil sich alle anderen Bewegungen durch eine Veränderung der Bewegungsweite von ihnen herleiten lassen. Alle anderen Techniken erscheinen so als einfache Variationen (Henka Wasa) dieser drei Kihons: Ikkyo, Shiho Nage und Irimi Nage. Nakazono Sensei hat uns oft wiederholt, dass O Sensei diese Techniken mit den Symbolen Dreieck, Kreis und Quadrat assoziierte. Irimi Nage wird mit dem Dreieck, Ikkyo mit dem Kreis und Shiho Nage mit dem Quadrat in Verbindung gebracht. Und natürlich wird, wie in vielen Traditionen, das Quadrat mit der Erde, der Kreis mit dem Himmel und das Dreieck mit dem Menschen assoziiert. Es gibt einen Film, in dem O Sensei vor einer Tafel mit den Zeichnungen dieser drei Figuren (Dreieck, Kreis, Quadrat) steht.  Und er kommentiert sie lange, indem er mit einem Stab auf sie zeigt wie ein Mathelehrer!

 

Nage Wasa: das Schlimmste und das Beste

Zu den gefährlichsten und daher besonders unfallträchtigen Nage gehören Ude Kime Nage, aber auch Kaiten Nage. Gemeinsam ist ihnen, dass sie beide zu einem Mae Ukemi (Vorwärtsrolle) führen. Kaiten Nage hat oft Stürze auf das Schulterdach oder schlimmer noch auf das Steißbein zur Folge. Was Ude Kime Nage betrifft, so handelt es sich um eine Bewegung, die zu vielen verletzten Ellbogen geführt hat, und das Ukemi, das es dem Uke erlaubt, sich zu befreien, ist nicht weniger gefährlich. Eine weitere Gruppe von gefährlichen Wurftechniken sind die Koshi Nages. Und unter diesen ist die sehr eigenartige Technik Aiki-Otoshi sowohl für den Uke (aufschlagender Rückwärtsfall) als auch für den Tori riskant: Letzterer riskiert eine Knieverstauchung, wenn seine Stellung falsch ist. Schließlich sind die Kokyu Nages zu erwähnen, die auf den ersten Blick harmloser zu sein scheinen als die Koshi, aber alles hängt von ihrer Ausübung ab. Die Sutemis werden im Aikido nur als Gegentechniken (Kaishi Wasa) verwendet und sie werden nur den höher Gradierten gelehrt, um auf mögliche Fehler in den Ausgangs-Bewegungen aufmerksam zu machen. Wir können sie daher ignorieren.

 

Aber abgesehen von ihrem Gefährlichkeitsgrad haben die Wurftechniken den enormen Vorteil, dass sie mit diesem permanenten ‚Kneten‘ des Körpers - sowohl in der Ausführung der Bewegung als Tori als auch in den Rollen als Uke - das Herzstück der Disziplin bilden. Die Bewegungen des Rollens sorgen sowohl für eine vollständige Massage der Wirbelsäule als auch für eine bessere Zirkulation der Lymphe, die nach Meinung von Experten die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers stärken soll. Wie dem auch sei, ein regelmäßiges Üben von drei bis vier Mal pro Woche mit vielen Wurftechniken in jedem Keiko bringt jenes Gefühl des körperlichen und geistigen Wohlbefindens, der Verfügbarkeit über seinen eigenen Körpers mit sich, das viele Aikido-Praktizierende gut kennen.

 

Eine Selektion durch die Gefahr

 

Oft sind es aber auch gerade die Wurf- und Falltechniken, die dazu beitragen, ob man mit dem Aikido weitermacht oder ob man damit aufhört - dies nicht nur bei den Anfängern, sondern auch bei denjenigen, die seit vielen Jahren praktizieren. Das Erlernen des Ukemis kann für einen Anfänger zu schmerzhaft oder gar unmöglich sein, wenn er zu sehr an Übergewicht, an körperlicher Steifheit oder an einem früheren Unfall-Trauma leidet, das physisch oder psychisch noch zu präsent ist. Er muss dann auf die Wurftechniken verzichten, was mit ziemlicher Sicherheit dazu führt, dass er das Aikido aufgibt. 

 

Diese Selektion setzt sich während der gesamten Karriere des Aikidoka fort. Wie bereits erwähnt, ist einer der häufigsten Unfälle die Akromio-Klavikular-Verstauchung, bei der das Schultergelenk nach einer Wurftechnik, die ein Mae Ukemi erfordert, verletzt wird. Jeder etwas erfahrene Lehrer hatte bestimmt schon einmal die Gelegenheit, solchen Verletzungen zu begegnen. Sie haben immer die gleiche Konsequenz für das Unfallopfer: seine Weigerung, sich nach der Genesung den Wurftechniken zu unterziehen mit der Folge, dass es während Monaten oder sogar Jahren keine Falltechnik ausführt. Es braucht viel Zeit, um die Ängste, die sich diesbezüglich eingenistet haben, zu vertreiben.

 

Aber selbst für diejenigen, die noch nie solche Probleme hatten, werden die Wurf- und Falltechniken im Laufe der Jahre zu einem Problem. Sie setzen beim Üben als Uke eine Dynamik und Verfügbarkeit voraus, die mit dem Alter nachlässt. Chiba Sensei hatte bereits in den 90er Jahren über dieses Problem gesprochen: Die Unmöglichkeit, sich Wurftechniken zu unterziehen oder einfach die Schwierigkeit, sie mit dem Alter auszuführen, werde das Üben von Wurf- und Falltechniken verhindern. Die Lösung lag für ihn auf der Hand: Wenn das Alter kommt - und der Zeitpunkt kann je nach Person sehr unterschiedlich sein - sollte man das Üben mit den Waffen (dem Jo und dem Ken) vorziehen.

 

Nage / Osae - ein pädagogisches Werkzeug

 

Die Möglichkeit für einen Lehrer, in jedem Moment der Trainingseinheit zwischen Nage Wasa (Wurftechniken) und Osae Wasa (Festhalter-Techniken) zu wählen, ist ein großartiges Mittel, um die Intensität des Unterrichts zu verändern. Jene kann sehr einfach am Grad der Atemlosigkeit (oder mit größerer Genauigkeit durch das Messen der Herzfrequenz) eines oder mehrerer Übender gemessen oder beobachtet werden. Das Tempo in einer Trainingseinheit zu erhöhen bedeutet, die Phasen der Wurftechniken zu verlängern. Das Tempo zu verlangsamen bedeutet hingegen, zu den Festhalter-Techniken zurückzukehren mit der Anweisung, die für die Festhalter-Techniken typische Haltezeit am Ende der Technik mit Nachdruck auszuführen. 

 

Die wohlüberlegte Wahl zwischen Wurf- und Festhalter-Techniken sowie die Dauer der einzelnen Sequenzen sind der Schlüssel zu einer harmonischen Trainingseinheit, welche die Übenden beim Verlassen des Dojo mit einer gesunden Müdigkeit zurücklässt, ohne sie völlig erschöpft zu haben. Ein gutes Beispiel hierzu bietet Doshu Moriteru Ueshiba. Er strukturiert die meisten seiner Morgenstunden im Hombu-Dojo (von 6:30 bis 7:30 Uhr) wie folgt: Nach sieben Minuten Aufwärmen (Aiki Taiso) ist die erste vorgeschlagene Technik fast ausnahmslos Irimi Nage, also eine derjenigen Techniken, die den höchsten Energieaufwand erfordern, und zwar ebenso beim Tori wie beim Uke. Darauf folgen normalerweise "ruhigere" oder weniger anstrengende Wurftechniken. Dann kommen Festhalter-Techniken dran, bevor während der letzten fünfzehn Minuten frei geübt wird, wobei das Tempo und der energetische Aufwand wieder in die Höhe gehen. Zum Abschluss kehrt mit Kokyu Ho endlich wieder Ruhe ein. 

 

In Bezug auf den Rhythmus der Trainingseinheit ist dies ein sehr typisches Beispiel. Es entsteht zuerst ein sehr hohes Tempo zu Beginn des Hauptteils, dann folgt eine ruhigere Phase in der Mitte der Trainingseinheit, dann entwickelt sich mit dem freien Üben wieder eine intensivere Arbeitsphase, bevor abschliessend zur Ruhe zurückgekehrt wird. Das ist ein idealer Rhythmus für so eine frühe Morgenlektion und deshalb wird sie - abgesehen von der Anwesenheit des Doshu natürlich - so geschätzt. Über 100 bis 120 Übende drängen sich jeden Morgen in dieses Keiko, das sich der Doshu nun mit seinem Sohn teilt.

 

Wurftechniken - die Seele des Aikido

 

So gesehen stellen die Wurftechniken die Seele unserer Disziplin dar. Sie verwirklichen am besten das Motto: „Weder Gewinner, noch Verlierer!“ Ein Angriff erfolgt, eine Wurftechnik setzt sich in Gang, aber der Angreifer entweicht durch eine perfekt mit der Wurftechnik synchronisierte Falltechnik. Dies ist der sichtbare Ausdruck des „Sieges durch Frieden“. Denn wenn es den Angreifer jahrelange Übung gekostet hat, das Ukemi in perfekter Koordination mit der Wurftechnik auszuführen, so war es ebenso notwendig, dass der Tori die Wurftechnik so ausführte, dass er dem Uke diesen eleganten und rettenden Abgang ermöglichte.

 

In dieser Form sind die Wurftechniken eine perfekte Darstellung des ständigen Sich-Übens im buddhistischen Mitgefühl, das den Geist des Aikido durchdringt. Keine Verletzung infolge der Aggression, keine physische Spur von einer Dominanz oder einer Niederlage, auch keine psychische Spur, weil kein Gesichtsverlust oder keine Frustration erfolgt. Schließlich, auf einer anderen Ebene, keine „karmische“ Spur. So sind die Aikido-Wurftechniken, laut O Sensei, von Natur aus der Ausdruck der idealen Kampfkunst.

 

Paul Müller

Übersetzung :  Patrick Engel